Mancher Naturbeobachter kennt sie, diese seltenen magischen Tage, an denen einfach alles passt. Am Ende weiß man nicht, ob es nur eine Reihe glücklicher Zufälle und Umstände war oder ob die eigenen Sinne offener und aufmerksamer waren als sonst, das eigene Verhalten stiller und achtsamer. Einen solchen Tag erlebte ich Mitte Oktober dieses Jahres bei meinem Kurzurlaub im nordhessischen Kellerwald. Schon der Vormittag war unvergessen, als die Sonnenstrahlen durch das herbstbunte Blätterdach des nebeligen Buchenwaldes brachen und nur herabfallende Tautropfen und vereinzelte Vögeln zu hören waren. Der stille Wald schien seine uralte Geschichte zu erzählen.
Mehrere Stunden später: Meine Abendpirsch wurde von einem großen Schwarm Kraniche eröffnet, der genau über mir hinweg zog, als ich mich in einer Lichtung befand - freie Sicht auf die „Vögel des Glücks“ am blauen Herbsthimmel. Sie waren die Ouvertüre zu einem unvergessenen Abend. An meinem Ziel angekommen, einer großen Waldwiese, konnte ich zunächst einige Ringdrosseln beobachten – seltene Gäste aus dem Norden, die etwa wie Amseln mit einem weißen Halbmond auf der Brust aussehen.
Direkt am Wegrand stellte ich mich zwischen die Stämme einer mehrstämmigen Eberesche. Für die Tiere war ich damit sehr unauffällig. Vielleicht eine halbe Stunde hatte ich in dieser Position gewartet, es war noch gänzlich hell, da war sie plötzlich vor mir: Höchstens 30 m entfernt pirschte eine Wildkatze durchs Gras, wie aus dem Nichts war sie gekommen. In Ultrazeitlupe wechselte ich zwischen Fernglas und meiner Bridgecam, mit der ich einige passable Videos aufnahm. Konzentriert auf ihre Jagdbeute schlich die Katze auf mich zu und kam bis auf etwa 20 m heran.
Mit Fernglas und Kamera konnte ich kleinste Details sehen: Das fein getigerte Fell, das bildhübsche Katzengesicht mit den großen Nachtaugen, die hellen Schnurrhaare und dem weißen Kehlfleck, die dunklen Streifen im Nacken, die sich als breiter schwarzer Aalstrich auf dem Rücken fortsetzten und den dicken buschigen Schwanz mit dem stumpfen schwarzen Ende. Die Katze verharrte regungslos, leicht geduckt mit Blick nach vorn unten. Ihre Spannung war förmlich zu spüren, dann ein kurzes Zucken der Hinterläufe und eine Sekunde später der blitzartige Zugriff. Keine Chance für die dicke Wühlmaus, die Katze verzehrte ihre Mahlzeit, drehte sich um und setzte ihre Abendpirsch in aller Ruhe fort. Ich konnte sie noch sicher zehn Minuten lang beobachten, wie sie sich langsam im Wiesengrund entfernte und hinter den Bäumen verschwand.
Was ich beobachtet hatte, war wilder Alltag, Jäger und Gejagter, Beutegreifer und Beute. Das Besondere daran war, dass ich dabei sein konnte, einen exklusiven Einblick hatte. Es war einer der Momente, in denen ich nirgendwo anders sein wollte, als ich es gerade war. Es geschah direkt vor mir und es wäre sicherlich genauso geschehen, wenn ich nicht dort gewesen wäre – gerade das machte es besonders schön: Keine Flucht, keine Verhaltensänderung, nicht einmal ein banger Blick in meine Richtung. Ich war dabei und ich war für die Katze einfach Baum. Es ist für mich eine große Ehre, dass ich teilhaben durfte. Viel zu selten können wir solche intensiven Momente erleben, in denen wir nicht stören, nicht verängstigen, sondern einfach nur dabei sind, bewundern und uns am wilden Leben erfreuen.
Diese Begegnung erinnert daran, wofür wir kämpfen: Für die, die im Verborgenen leben, die sich vor uns verstecken, die ihre Stimme nicht erheben können - damit sie ihren wilden Alltag weiterhin leben.
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